
Wind und Regentropfen wehen mir um die Ohren, durch meine Haare und direkt in mein Gesicht. Bis unter meine Regenjacke scheinen sie zu dringen und bringen mich zum Frösteln. Eigentlich ist es ein schöner Tag. Es ist ein früher Morgen, mitten im Juni und ich sitze als einziger Gast im Außenbereich eines kleinen, unscheinbaren Cafés.
Allerdings, und dies lässt den Morgen für mich doch nicht so schön erscheinen, bin ich zu früh.
Was das bedeutet? Ich könnte noch in meinem Bett liegen. Meinem schönen, großen, vor allem aber warmen Bett. Unter der dicken Decke und in einem dunklen, stillen Zimmer. Stattdessen bin ich früh aufgestanden, in der unbegründeten Annahme, ich könnte zu spät kommen, wie durch etwaige Verspätungen im ÖPNV oder Zugausfällen.
Es war 6:00 Uhr als ich aufgestanden bin. Ich war um 9:30 Uhr verabredet. Ich habe die Bahn um 7:13 Uhr genommen. 15 Minuten bin ich bis hierher gelaufen. Um 8:00 Uhr sitze ich also jetzt in diesem Café. Anderthalb Stunden zu früh. Ich bin sogar vor der Besitzerin angekommen, die mir die Tür aufmachte, als ich bereits kurz davor war, wieder zurück zum Bahnhof zu gehen.
Während sie also die Stühle und Tische im Außenbereich aufbaut, setze ich mich mit einem Latte Macchiato auf eine Bank am Rand. Meinen Regenschirm stelle ich daneben. Die Tropfen rollen von oben herab und fallen auf die grüne Unterlage. Ich hole meine Kopfhörer aus dem Rucksack. Die Musik verdrängt alle anderen Geräusche. Den Regen, die Menschen, das Klappern der Stühle, den Wind, der durch die Bäume pfeift. Alles verstummt. Nur vereinzelt nehme ich noch akustisch das Vorbeirauschen eines Autos wahr.
Die Frau, die mir das Café aufgeschlossen hat, geht nach innen. Ich verfolge sie im Augenwinkel. Kurze Zeit hatte ich überlegt, ob ich ihr beim Heraustragen aller Stühle helfen sollte. Die Idee verwerfe ich allerdings schnell wieder.
Ein süßer, warmer Duft dringt in meine Nase. Kurz darauf stellt sie einen Korb mit frischen Croissants auf den Tresen. Ich nehme mein Portmonee und gehe nun auch nach innen. Niemand könnte dem schließlich widerstehen. Sie nimmt einen weißen Teller, eine Serviette und eine Gabel. Mir ist schleierhaft, wie man ein Croissant mit einer Gabel isst. Dann reicht sie mir den Teller.
Es dampft. Die goldbraune Farbe scheint zu glänzen.
„Passen Sie auf, die sind noch heiß.“
Ich setze mich. Diesmal allerdings auf einen der Flechtstühle. Den Latte Macchiato, meinen Rucksack und mein Handy mit den Kopfhörern verlege ich ebenfalls auf meinen neuen Platz. Nur den Regenschirm lasse ich am Rand stehen.
Das Croissant passt nicht in die graue Umgebung. Es sieht unwirklich aus. Außerdem glaube ich, dass ich noch nie ein so frisch aufgewärmtes Gebäck in irgendeinem Bäcker gegessen hatte. Begeistert greife ich nach meinem zweiten Frühstück. Meine eiskalten Finger werden schlagartig wärmer. Gleichzeitig verbrenne ich mir die Zunge, als ich hineinbeiße. Das war es wert! Dennoch lege ich das Croissant erst mal wieder auf den Teller.
Der Regen lässt zwar nicht nach, aber vereinzelt fallen Lichtstrahlen durch das dicke Wolkendach, die in den Pfützen reflektiert werden.
Eine Frau tritt aus dem Gebäude auf der anderen Straßenseite. Durch den weiteranhaltenden Regenschleier erkenne ich nur ihre schemenhafte Gestalt. Sie stellt sich unter einen Vorsprung, holt ihren Regenschirm heraus und überquert dann die Straße.
Die beiden Fahrtrichtungen sind durch einen schmalen Grünstreifen getrennt. Nun ist der Grünstreifen allerdings nur noch eine Matschtrasse. Die Frau versucht die größten Matschpfützen zu umgehen und kommt in meine Richtung. Tatsächlich stellt sie sich zu mir unter das Vordach des Cafés. Sie klappt ihren Regenschirm ein und schüttelt ihn vor der Türschwelle aus. Trotz der kurzen Strecke, die sie zurückgelegt hat, sprühen die Regentropfen in alle Richtungen. Ihre dunklen Haare sind zu einem straffen Zopf nach hinten gebunden und sie trägt einen langen hellblauen Mantel. Eine spitze Nase und ein kleiner Mund zieren ihr Gesicht. Sie hat dezentes Makeup aufgetragen.
Stolz strafft sie den Rücken und betritt das Café, als wäre es ihr eigenes. Ich verfolge sie mit meinem Blick. Durch die graumelierte Scheibe sehe ich, wie sie mit der Frau hinter dem Tresen spricht und ebenfalls ein dampfendes Croissant auf einem weißen Porzellanteller serviert bekommt.
Ein Mann setzt sich auf einmal in einen der Flechtstühle auf der anderen Seite des Außenbereichs. Er trägt eine Aktentasche mit sich. Die Frau kommt mit dem Croissant und einem Kaffee heraus. Sie setzt sich neben den Mann. Anscheinend haben sie sich für ein gemeinsames, morgendliches Frühstück verabredet.
Ich widme mich wieder meiner Musik und der Straße. Der Regen hat mittlerweile ganz aufgehört und die Wolkendecke bricht auf. Im Hintergrund der einzelnen Lichtstrahlen wirkt die ganze Szenerie, die sich vor mir auftut, immer noch seltsam grau, kalt, leer.
Ein Mann mit zwei Plastiktüten läuft an mir vorbei. Er scheint es eilig zu haben und bald ist er aus meinem Blickfeld verschwunden, als bereits die nächste Person, eine Frau, an mir vorüberläuft. Ebenfalls mit einigen kleinen Plastiktüten bepackt, scheint sie es nicht ganz so eilig zu haben. Sie war anscheinend auch schon einkaufen, denn ich erkenne frisches Obst und Gemüse aus den Tüten blitzen. Vermutlich von dem Obsthändler ein paar Straßen weiter, vermute ich.
Es laufen sonst nur noch die ersten Frühaufsteher und Arbeitswilligen umher, mit grimmigem bis ehrgeizigem Blick und dennoch alle mit dem gleichen Arbeitsdrang.
Frühaufsteher. Man erkennt sie an ihrem stets etwas rascherem Gang und dem trotz der frühen Stunde hellwachen Blick. Wir alle erliegen dem Aberglauben, dass Sinnvolles erst durch einen langen Arbeitstag hervorgehen kann.
Ein weiterer Mann mittleren Alters und Aktentasche kommt zielstrebig aus dem Gebäude gegenüber heraus und auf das Café zu. Er ist etwas korpulent und trägt einen für seine Größe unvorteilhaft geschnittenen Mantel. Auch er versucht geschickt die Matschtrasse zu überwinden. Allerdings mit weniger Erfolg als die große Brünette.
Als er bei mir ankommt, sind seine schönen Lackschuhe braun und verstimmt schaut er nun auf den Dreck, den der Matsch hinterlassen hat. Dann entscheidet er sich anscheinend dafür, es mit so viel Fassung wie möglich zu tragen und betritt das Café.
Ein Krankenwagen rast vorbei und die wenigen Autos auf der Straße fahren an den Rand. Wir alle sehen ihm nach und scheinen uns zu fragen, wo er hinfährt und was wohl passiert sein mag.
Das Lied über meine Kopfhörer endet und ich höre, wie von innen die Kaffeemaschine auf Hochtouren läuft und offensichtlich alles aus sich auskotzen will, was sich angesammelt hat, wie den Gurgel-, Spritz- und Zischgeräuschen nach zu schließen ist. Dann verstummt das Monstrum und der Mann kommt mit einem frischen Cappuccino und einem nicht mehr ganz so warmen Croissant heraus.
Es scheint trotz des eigentlich trüben Wetters und des immer noch eiskalten Windes die Leute nach draußen zu ziehen. Ich wundere mich kurz über dieses Verhalten, bevor mir auffällt, dass ich selbst doch auch zu ihnen gehöre, weswegen ich schmunzeln muss.
Dann wage ich mich wieder an mein Croissant, versuche es allerdings möglichst so zu essen, dass keine Krümel an meinem Mund oder auf meinen Schoß fallen. Also beiße ich würdevoll in das immer noch warme Gebäck. Ich zucke ein wenig zurück, denn es fühlt sich immer noch etwas unangenehm an, mit verbrannter Zunge zu essen. Dem Geschmack aber tut es keinen Abbruch, weshalb ich munter weiter esse.
Als ich sehe, dass der Mann mit dem unpassenden Mantel sich ebenfalls die Zunge verbrennt, kann ich nicht anders, als ihm im Geiste mein volles Mitgefühl und Verständnis auszusprechen. Wir waren beide etwas zu begeistert und haben nicht auf den Rat der Verkäuferin gehört. Aber das liegt in der Natur von Frühaufstehern. Wir sind zu vorschnell und zu ungeduldig.
Jetzt wo die Sonne immer mehr hinter den dichten Wolken hervorkommt, sieht die Gegend schon gar nicht mehr ganz so trist aus und ich sehe einmal auf meine Uhr, nur um festzustellen, wie lange ich wohl noch Zeit hätte für meinen Kaffee und das Croissant.
Zu meinem Verdruss stelle ich fest, dass gerade mal zehn Minuten vergangen sind.
-Elsa