Öffi-Sonette

Was macht ein Gedicht aus? Muss es sich reimen? Strophen und Verse haben?

Im Falle des Sonetts, einer im Italien des 13. Jahrhunderts erfundenen Form des Gedichts, ist die Antwort eindeutig ja!

Genauer gesagt: In seiner klassischen, insbesondere von Shakespeare berühmt gemachten Form besteht es aus 14 Versen, die in zwei sogenannte „Quartette“ mit je vier Versen und zwei dreizeilige „Terzette“ gegliedert sind.

Shakespeare hat meistens über die Liebe geschrieben, Jan Wagner, ein zeitgenössischer Lyriker, beispielsweise über seine Zeit in Kalifornien, und wir, der Leistungskurs von Herrn Rischke im vierten Semester, haben uns entschieden, über den öffentlichen Nahverkehr zu schreiben.

Warum?

Warum nicht!

Eine Auswahl der Gedichte präsentieren wir hier und wünschen viel Spaß beim Lesen und vielleicht Selberdichten!

Josephine Jaeschin: Alltag im ÖPNV

Foto: J. Rischke (c) 2022, Motiv: LK Kunst

die blauen neonröhren leiten mich zu dir

ob ich dich verpasst hab, sehe ich erst am ende der treppe 

zwischen all den müden gesichtern warte ich auf dich

deine gelb leuchtenden augen schauen schon um die ecke

du nimmst fahrt auf, ziehst mich mit, lässt um mich rum das geschehen

durch dein quietschen in den kurven verstummen

bei dir glaub ich, hab ich alles schon gesehen

wünsch mir nur eine minute, in der sich hier nicht die Massen tummeln

schönheit würd ich anders definieren

gerüche, die die nase verätzen und dich morgens wecken

zerkratzte scheiben und klebriger Boden

am ende strömen sie alle raus, als würdest du explodieren

bin froh nicht noch schrecklicheres bei dir zu entdecken

dankbar, denn nur du hast mich so oft an mein ziel gezogen.

Gwendolin Clement: Liebesdefizit

Foto: J. Rischke (c) 2022, Motiv: LK Kunst

stehe neben der bahnhofslaterne

gegen halb vier

schaue in die ferne

während ich frier

steck in schönhaus‘,

komm nicht nach haus

rabimmel rabammel rabum

die gelbe s-bahn

das objekt meiner begier‘

ist wieder mal lahm

ist immer noch nicht hier

empfind ‘nen graus

will nur nach haus

rabimmel rabammel rabum

Antonia Salzmann: gedrängt

Foto: J. Rischke (c) 2022, Motiv: LK Kunst

ins dunkle gedrängt, lauernd

bis die nächsten Augen den meinen begegnen,

verborgen unter ihren masken, dauernd

bis wir das schön öde hinterland erreichen 

dort wo wüste gestalten probieren 

nicht ins gleisbett zu fallen,

sie lallen, von mädel zu mädel flatternd

und ich, nichts ahnend vor meinen nächsten abenteuern 

hektische gespenster um mich her-

um deren geruch mir unwürsch in die nase steigt,

mir ungefragt ihre tiefen lebens offenbar-

en und im lichtausfall die schatten der bereits zer-

kratzten zweifarbenpolster zermahlen, weit

ists nicht mehr, schöneweide 

Stella Trost: Passiv

Foto: J. Rischke (c) 2022, Motiv: LK Kunst

wie motten in einer sommernacht, ver-

sammelt unter diesem einen grellen balken 

unter vielen in einem meer 

aus schwarz. kleine gestalten, 

nur ein dunkler fleck auf gelb. und 

sie genauso: einzig schatten ihrer selbst,

stumm in dem summenden schlund 

der masse. Zusammenschmelz- 

end, ein ewiges grau, das kaum von dem 

der schienen zu trennen ist, sieht man 

sie teilnahmslos nebeneinanderstehen, 

bis sich die türen öffnen, das getier 

in einem letzten rauschen auf den bahn- 

hof dringt und sich auf immer verliert. 

Paula Ketel: pfützen zwischen gleisen

Foto: J. Rischke (c) 2022, Motiv: LK Kunst

wie eine welle seelen schwemmt

schieben türen, drängt sich luft hinaus.

schon strömen körper in maschin‘schlund,

ferngeführt, geborgen hält es sie im bauch

berühren sein skelett, halten

an der stelle, an jedem weg.

gefangen an der scheibe – falter

tümmeln sich, wo jeder sehnsucht hegt.

funken streichen bänder aus stahl

verweben knoten lösen sich nie-

mandsländer ziehen vorbei, bald

verfließen lange gesichter,

zeichnen sich in reflexionen ab,

tanzen dort draußen miteinander.

Laura Blaschke: Heimweg

Foto: J. Rischke (c) 2022, Motiv: LK Kunst

Ich warte am Steig

bis die Bahn endlich hält,

die Türen öffnen sich, 

ich beeile mich.

Ich suche nach einer Sitz-

gelegenheit, hier ist schon besetzt.

Ich gehe weiter, die Bahn fährt los,

sie rauscht, ich höre der Gleise Chor.

Da ist ein Platz, ich setze mich

mit der Musik in meiner Gedankenwelt

und genieße die Abendsicht.

Der Ton, er schellt,

ich steige aus

und gehe friedlich in der Dämmerung nach Haus.