Was macht ein Gedicht aus? Muss es sich reimen? Strophen und Verse haben?
Im Falle des Sonetts, einer im Italien des 13. Jahrhunderts erfundenen Form des Gedichts, ist die Antwort eindeutig ja!
Genauer gesagt: In seiner klassischen, insbesondere von Shakespeare berühmt gemachten Form besteht es aus 14 Versen, die in zwei sogenannte „Quartette“ mit je vier Versen und zwei dreizeilige „Terzette“ gegliedert sind.
Shakespeare hat meistens über die Liebe geschrieben, Jan Wagner, ein zeitgenössischer Lyriker, beispielsweise über seine Zeit in Kalifornien, und wir, der Leistungskurs von Herrn Rischke im vierten Semester, haben uns entschieden, über den öffentlichen Nahverkehr zu schreiben.
Warum?
Warum nicht!
Eine Auswahl der Gedichte präsentieren wir hier und wünschen viel Spaß beim Lesen und vielleicht Selberdichten!
Josephine Jaeschin: Alltag im ÖPNV

die blauen neonröhren leiten mich zu dir
ob ich dich verpasst hab, sehe ich erst am ende der treppe
zwischen all den müden gesichtern warte ich auf dich
deine gelb leuchtenden augen schauen schon um die ecke
du nimmst fahrt auf, ziehst mich mit, lässt um mich rum das geschehen
durch dein quietschen in den kurven verstummen
bei dir glaub ich, hab ich alles schon gesehen
wünsch mir nur eine minute, in der sich hier nicht die Massen tummeln
schönheit würd ich anders definieren
gerüche, die die nase verätzen und dich morgens wecken
zerkratzte scheiben und klebriger Boden
am ende strömen sie alle raus, als würdest du explodieren
bin froh nicht noch schrecklicheres bei dir zu entdecken
dankbar, denn nur du hast mich so oft an mein ziel gezogen.
Gwendolin Clement: Liebesdefizit

stehe neben der bahnhofslaterne
gegen halb vier
schaue in die ferne
während ich frier
steck in schönhaus‘,
komm nicht nach haus
rabimmel rabammel rabum
die gelbe s-bahn
das objekt meiner begier‘
ist wieder mal lahm
ist immer noch nicht hier
empfind ‘nen graus
will nur nach haus
rabimmel rabammel rabum
Antonia Salzmann: gedrängt

ins dunkle gedrängt, lauernd
bis die nächsten Augen den meinen begegnen,
verborgen unter ihren masken, dauernd
bis wir das schön öde hinterland erreichen
dort wo wüste gestalten probieren
nicht ins gleisbett zu fallen,
sie lallen, von mädel zu mädel flatternd
und ich, nichts ahnend vor meinen nächsten abenteuern
hektische gespenster um mich her-
um deren geruch mir unwürsch in die nase steigt,
mir ungefragt ihre tiefen lebens offenbar-
en und im lichtausfall die schatten der bereits zer-
kratzten zweifarbenpolster zermahlen, weit
ists nicht mehr, schöneweide
Stella Trost: Passiv

wie motten in einer sommernacht, ver-
sammelt unter diesem einen grellen balken
unter vielen in einem meer
aus schwarz. kleine gestalten,
nur ein dunkler fleck auf gelb. und
sie genauso: einzig schatten ihrer selbst,
stumm in dem summenden schlund
der masse. Zusammenschmelz-
end, ein ewiges grau, das kaum von dem
der schienen zu trennen ist, sieht man
sie teilnahmslos nebeneinanderstehen,
bis sich die türen öffnen, das getier
in einem letzten rauschen auf den bahn-
hof dringt und sich auf immer verliert.
Paula Ketel: pfützen zwischen gleisen

wie eine welle seelen schwemmt
schieben türen, drängt sich luft hinaus.
schon strömen körper in maschin‘schlund,
ferngeführt, geborgen hält es sie im bauch
berühren sein skelett, halten
an der stelle, an jedem weg.
gefangen an der scheibe – falter
tümmeln sich, wo jeder sehnsucht hegt.
funken streichen bänder aus stahl
verweben knoten lösen sich nie-
mandsländer ziehen vorbei, bald
verfließen lange gesichter,
zeichnen sich in reflexionen ab,
tanzen dort draußen miteinander.
Laura Blaschke: Heimweg

Ich warte am Steig
bis die Bahn endlich hält,
die Türen öffnen sich,
ich beeile mich.
Ich suche nach einer Sitz-
gelegenheit, hier ist schon besetzt.
Ich gehe weiter, die Bahn fährt los,
sie rauscht, ich höre der Gleise Chor.
Da ist ein Platz, ich setze mich
mit der Musik in meiner Gedankenwelt
und genieße die Abendsicht.
Der Ton, er schellt,
ich steige aus
und gehe friedlich in der Dämmerung nach Haus.