Sie war traurig. Mein Mensch, sie war traurig.
Draußen wurde die Luft immer kälter, beißender. Wenn ich hinausging, zwickte sie mich. Sie war stark, konnte durch mein dichtes Fell dringen und mich erschaudern lassen.
Manchmal schwebten kleine, leichte Flocken herab und verfingen sich in den Bäumen. Zuerst schmolzen sie sofort wieder. Jetzt blieben sie auf dem Boden liegen, als weiße, heimtückische Decke für die Welt. Sie sah harmlos und weich aus, doch als ich mit neckten Pfoten darauf trat, biss mich die Kälte wie eine Schlange.
Hier drinnen wurde es immer bitterer. Es war ein Geruch, scharf und noch schrecklicher als die Kälte. Er war immer da. Wenn ich auf meiner Decke neben dem Kamin lag, raubte er mir die Fähigkeit, zu riechen. Es gab Tage, an denen schmeckte Fleisch nach verbitterter Trauer. Wenn ich zu meinem Menschen ging und ihre weiche Haut leckte, nur dann wurde es besser. Der Geruch wurde dann mindestens etwas milder.
Das war schön. Ich verstand Menschen nicht so gut wie andere Hunde, doch das erkannte ich. Ich konnte sie trösten.
Mein Mensch mochte es nicht, wenn ich hinausging. Sie sah mir dann nach, wie ich langsam die Tür aufschob und in die grellweiße Welt verschwand. Ihr Raum war immer dunkel. Manchmal verbot sie es mir das Haus zu verlassen. Dann legte sie mir einen engen Strick um den Hals, der mir die Luft abwürgte und meinen Kopf schwer machte. Ich hasste diese Stunden. Da blieb mir nichts anderes übrig als in dem Geruch eines dahinsiechenden Menschen zu liegen.
Sie selbst ging nicht oft hinaus. Wenn sie es tat, dann schickte sie mich in den Wald. Ich mochte den Wald, doch ich vertraute ihr nicht. Mein Mensch tut unbedachte Dinge, wenn ich nicht auf sie aufpasste. Leider hatte ich damit fast immer Recht. Einmal kam sie mit einem blutenden Bein zurück, woraufhin ich ihre Wunde ableckte und sie gesund pflegte.
Dann und wann machte ich ihr auch ein Geschenk. Dafür ging ich in den Wald und jagte ein paar Hasen für sie. Allerdings schien sie das eher traurig zu machen. Ich verstand es nicht aber weil sie das Fleisch danach briet und aß, machte ich es öfter. Manchmal bildete ich mir ein, dass es ihr nach meinen Geschenken besser ging auch wenn das leider oft Wunschdenken war.
Vor langer Zeit hatte ich meinen Menschen im Dorf gefunden. Es war ein ebenso kalter Tag gewesen, wie bereits die letzte Zeit. Die anderen Dorfbewohner waren glücklich gewesen. Überall liefen sie herum und kommunizierten mit ihren lauten, unmelodischen Stimmen. Außerdem hatten sie im Wald eine riesige Tanne gefällt und sie in die Mitte des Dorfplatzes gestellt. Dann hatten sie sie mit Menschendingen behängt und übelriechende Flüssigkeiten aus Bechern getrunken und klebrige, süße Sachen gegessen.
Das war mein erstes Mal gewesen, dass ich das erlebte, was die Menschen Weihnachten nannten. Auch wenn es damals keinen Schnee gab, war ich mir sicher, dass ebenso kalt war wie jetzt, als sie den großen, stattlichen Baum erneut auf den Marktplatz stellten.
Mein Mensch war damals nicht bei den anderen gewesen. Ich hatte sie in einer dunklen Gasse gefunden. Sie roch auch da schon nach dieser stinkenden Traurigkeit. Ich mochte diesen Geruch nicht. Traurigkeit. Und sie war so alleine, so wie ich. Also ging ich zu ihr hin, leckte ihr Gesicht und versuchte damit ihren Geruch zu verbessern.
Schon damals hatte sie ein altes, halbzerrissenes Papier in der Hand gehabt. Darauf war ein anderer Mensch zu sehen. Oft weinte sie mit dem Papier in der Hand. Tat der Mensch darauf ihr weh?
Ich hatte ihn noch nie gesehen.
Ein Geruch hing manchmal an ihrem Mantel, alt und fast schon verschwunden. Es war von einem männlichen Menschen, ungefähr in dem Alter von meinem. Er schien schon lange nicht mehr da gewesen zu sein. Sie vermisste ihn. Ich verstand einfach nicht, wieso sie ihn nicht zurückholte wo sie doch so sehr litt. Ein Rudelmitglied konnte nicht einfach gehen und wenn ich meinen Menschen vermissen würde, würde ich sie auch zurückholen.
Menschen waren schwierig, das wusste ich. Vielleicht war es ihr ja auch nicht möglich, dass sie einfach den anderen zurückholen konnte. Loyalität funktionierte bei ihr nicht so wie bei mir, was ich jeden Tag merkte, wenn ich hinausdurfte. Menschen bellten sich oft zornerfüllt an. Danach rochen sie meistens nach Trauer sowie einem anderen, beißenden Gestank und gingen einfach weg. Ich wusste nicht, ob sie einander wieder zurückholten, doch ich vermutete, dass es nicht so war. Menschen dachten nicht so wie ich.
Nachdenklich legte ich meinen Kopf auf den Schoß meines Menschen. Ich spürte wieder diese Traurigkeit und ich sah wieder das zerrissene Foto in ihren Händen.
Am liebsten hätte ich es ihr aus der Hand gerissen und es mit meinen Zähnen bearbeitet, bis nur noch winzige Fetzen davon übrig waren. Wenigstens müsste sie dann sie nicht mehr traurig sein auch wenn sie dann sehr wütend auf mich wäre.
Es würde ihr nicht helfen, sie würde nicht glücklicher werden, stellte ich nüchtern fest. Menschen waren viel komplexer als die Struktur des Blattpapiers.
Ich schloss die Augen und spürte wie ihre Hand durch mein Fell strich. Plötzlich wehte ein Fetzen eines Dufts heran. Das Papier und noch etwas anderes. Nicht alt, sondern frisch.
Er war nicht weg. Der Mensch, der zu diesem Foto gehörte. Er war nicht gänzlich verschwunden.
Abgrubt hob ich den Kopf von ihrem Schoß. Das konnte ich tun um sie wieder glücklich zu machen. Wenn ich ihn fand, dann würde die Traurigkeit mich nicht mehr ersticken. Mein Mensch seufzte leise und ein bisschen enttäuscht, als ich durch den Raum rannte und mit der Schnauze die Tür aufstieß. Ohne mich konnte mein Mensch das nicht schaffen.
Die Luft biss mich, doch dieses Mal schnappte nicht zurück. Mein Herz pochte schnell in meiner Brust. Ich hörte mich selbst hecheln und meine Klauen gruben sich in den tiefen, glitzernden Schnee. Ich rannte. Ich rannte schneller, kraftvoller und entschlossener, als ich je in meinem Leben gerannt bin. Ich musste ihn finden. Ich musste und ich hatte bereits eine Ahnung wo.
Giftige Flüssigkeiten, süße Nahrung, Bellen und Jaulen von Menschen. Die Gerüche stachen heftiger in meine Nase als die Kälte. Ich hasste die Lautstärke, mit der die Menschen kommunizierten. Sie protestierten, als ich zwischen ihren Beinen hindurchrannte. Einige wichen aus, andere heulten so laut, dass mein Kopf schmerzte und einige griffen böse nach meinem Fell, doch ich ignorierte sie und hetzte weiter, vollkommen sicher, dass ich ihn finden würde. Sobald ich mich in einen Geruch verbissen hatte, ließ ich ihn auch nicht mehr los.
Der Baum pikte mich mit spitzen Nadeln in den Rücken, als ich mich duckte und unter ihm hindurchkroch. Eine dieser bunten, funkelnden Kugeln klirrte, bevor sie sich von einem Ast löste und scheppernd zu Boden fiel. Ich zuckte zusammen, als sie in viele, scharfe Scherben zersprang und mit ihr hörte der Spuck nicht auf. Eine nach der anderen viel nun auf die harte Erde. So schnell ich konnte hetzte ich weiter, bloß weg von den Kugeln, die sich in reißzahnscharfe Splitter verwandeln konnte.
Der Geruch stieg mir wieder in die Nase. Frisch und intensiv, ganz anders als der am Foto. Trotzdem war es definitiv die Person, wegen der mein Mensch traurig war. Ich spürte es, diese Vertrautheit in einem einfachen Duft. Langsam näherte ich mich dem Haus. Da musste er drin sein. Es war groß, größer als unseres. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um das Dach zu erkennen. Ein Holzzaun markierte das Revier des Menschen. Ich zögerte nur kurz, bevor ich Anlauf nahm und mit einem großen Satz hinüber sprang.
Vorsichtig wagte ich mich weiter aufs Grundstück. Da war noch etwas anderes… Er war nicht allein. Hier lebte nicht nur derjenige, wegen dem mein Mensch so traurig war. Nein, es war noch mehr… Ich schnupperte an dem Gras, einem Baum und der Außenwand des Hauses. Mehr Menschen. Er hatte ein Rudel. Ich konnte ein Weibchen erkennen, menschliche Welpen. Das verwirrte mich. Gehörte er nicht zu meinem Menschen? Wieso war er hierhergekommen und hatte ein Rudel gegründet? Und das noch so nah an ihrem Revier? Jetzt verstand ich, warum mein Mensch traurig war. Er hatte ein neues Weibchen gefunden und hatte sein neues Territorium provozierend nah an dem von ihrem aufgeschlagen.
Aber wieso?
Verängstigt machte ich einen Satz zurück, als die Tür des Hauses plötzlich aufschwang. Drei kleine Menschenwelpen liefen heraus, laut kommunizierend. Ich kauerte mich kleiner zusammen, als ich ihn sah, den Menschen, der früher meinem gehört hatte. Die drei strahlten Fröhlichkeit aus. Eines der Welpen heulte etwas, worin die anderen einfielen. Ich legte den Kopf schief. Das erinnerte mich an ein richtiges Rudel. Das gemeinsame Jaulen. Wie glücklich sie rochen. Ganz anders als das, was ich Zuhause gewohnt war.
Da fiel der Blick von einem der Menschenwelpen auf mich. Ich erschrak. Sollte ich fliehen? Zurück zu dem Haus, in dem es nach Traurigkeit stank?
Jetzt zeigte es auf mich. Die anderen wurden auch auf mich aufmerksam. Der Welpe wollte auf mich losstürmen. Ich spannte mich an, machte mich bereit, wegzurennen, zurück in die Sicherheit meines Heims, doch der Vater packte seinen Sprössling gerade noch an der Schulter und hielt ihn auf. Ich konnte beobachten, wie sie kommunizierten. Auch, wenn ich nicht sonderlich viel von Menschensprache kannte sah ich, dass der ausgewachsene Mensch wohl beruhigend auf den kleinen wirken wollte und der schien zu hören. Anstatt auf mich zuzulaufen kniete er sich auf den Boden und streckte mir eine Hand entgegen. Ja. Das kannte ich. Die Geste war eine Unterwürfigkeitshaltung von Menschen. Das hatten schon viele getan, die wollten, dass ich mich ihnen näherte.
Mit einem letzten Blick zurück, auf den Zaun und den Weg dahinter, den Weg nach Hause, entschied ich mich. Mein erster Schritt war zögernd, vorsichtig, doch der Welpe roch fröhlich, es machte mich selbst auch glücklicher. Also schlich ich langsam weiter auf ihn zu und sah ihm kurz in die Augen. Er starrte zurück, so wie viele Menschen es taten. Schnell sah ich weg und schnupperte stattdessen an seiner Hand. Als hätte ich ihm damit eine Erlaubnis gegeben, begann er, mein Fell zu kraulen. Zuerst machte mich das nervös aber das Gefühl war beruhigend und schön. Irgendwie ein wenig anders als bei meinem Menschen. Ich sah noch einmal schnell hoch zu dem ausgewachsenen Menschen und prüfte, ob er nicht doch seine Welpen vor mir beschützen wollte.
Nein, seine Lefzen waren so verzogen wie Menschen es taten, wenn sie zufrieden waren, also rückte ich näher, genoss die Streicheleinheit sowie den Geruch, der zugegebenermaßen sogar ganz gut war. Irgendwann entschlossen sich die anderen, mich ebenso zu kraulen. Schade, dass mein Mensch nicht hier war. Ihr hätte das sicher gefallen.
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Das Haus war von innen viel größer als unseres. Es war heller, hatte mehr Räume und statt Holz auch Stein als Boden. Meine Klauen hörten sich ziemlich laut darauf an. Allerdings roch es gut, nach Rudel, nach Fröhlichkeit und… Essen! Ich streckte die Schnauze in die Luft und folgte dem Geruch. Er kam aus einem der Zimmer indem es wärmer war als in all den anderen. Darin stand das Weibchen an einem Fenster und hängte gerade einen Stern, der von innen leuchtete, ans Fenster.
Hier waren Geräte, die ich noch nie gesehen hatte. Ein Tisch und Stühle, die kannte ich schon, wieder die Steine als Boden, ja, aber an einer Wand waren so seltsame Kästen von denen Wärme ausging. Das hatte mein Mensch nicht bei sich. Ich schnupperte daran.
Der Rüde, der Vater, kam ins Zimmer und stieß einen erschrockenen Laut aus. Er drängte mich sanft von der Wärmequelle weg, dann beugte er sich zu mir herunter und machte einen Laut, den er mehrmals wiederholte.
Herd und Ofen. Hieß das so? War das ein Herd und das andere ein Ofen?
Der Rüde stand auf und drehte sich zu dem Weibchen. Sie verständigten sich wieder mit Lauten und Bewegungen. Der angespannte Geruch des Weibchens verschwand und sie seufzte. Dann bekam ich auf einmal ein Stück Fleisch vor die Füße geworfen, welches ich eifrig fraß.
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Ich hatte einmal versucht zurück zu meinem Menschen zu kommen. Kurz vor dem Zaun hatte das Weibchen mich jedoch gestoppt und angeknurrt. Sie mochte wohl nicht, dass ich zu ihrer Vorgängerin ging. Seitdem hatte ich keine Chance mehr bekommen nach draußen zu gehen. Die Tür ging immer wieder zu, bevor ich nach draußen entwischen konnte. Wenn ich jetzt mal rennen wollte, banden sie mich an einen Strick. Er verlief über meine Brust und war viel angenehmer als der, den mein Mensch mir gegeben hatte. Zudem durfte ich absolut nicht mehr alleine laufen. Immer nur an diesem Strick.
In der Nähe vom Wald bekam ich dann einen Strick, der länger war als der Normale, mit dem ich allerdings immer noch nicht vollständig rennen konnte, da er mich nach einiger Distanz sofort wieder zurückriss. Manchmal warfen sie einen Stock weg, den ich ihnen zurück brachte. Allerdings warfen sie ihn dann sofort wieder weg. Vielleicht war das ja ein Menschenspiel. Auf jeden Fall machte es Spaß und ich durfte wenigstens ein wenig rennen, wenn auch nicht so wie ich es gerne würde.
Bei dem Rüden gab es dann sogar etwas Futter. Das Weibchen erlaubte mir nur etwas zu essen, wenn sie Sitz, Platz oder Bleib sagte und ich darauf reagierte.
Hasen durfte ich leider nicht mehr erlegen, sondern nur die Stöcke.
Ich liebte das Leben bei dem Rudel, doch trotzdem vermisste ich meinen Menschen. Sie wusste doch nicht wo ich steckte und war jetzt ganz alleine. Ich war ihr Rudel. Ich musste mich um sie kümmern. Es war meine Pflicht.
Hier gefiel es mir allerdings auch. Das Rudel war nett zu mir, es gab immer genug zum Essen und vor allem keine Spur von diesem beklemmenden, fauligen Geruch der Traurigkeit. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, in ihm zu ertrinken oder zu ersticken.
Die Welpen liebten mich. Sie streichelten mich furchtbar gerne, spielten das Stöckchen-Spiel oder gaben mir ohne das Wissen der Ausgewachsenen etwas Fleisch. Manchmal rannten sie sogar mit mir oder ließen mich in ihr Bett. Da war es immer weich, warm und ich mochte es einfach für sie da zu sein.
Zudem heulten sie gerne zusammen. Dabei hatte jeder ein Blatt Papier in der Hand mit kleinen schwarzen Zeichen darauf und sie jaulten ihr seltsames Menschenheulen. Wenn ich mitheulte wurden sie sofort glücklich und stießen diese Menschengeräusche aus, die wohl Freude bedeuteten.
Außerdem wuchs eine Tanne in einem ihrer Zimmer, so nannten sie es. Ein großer, grüner Baum mit kleinen Pieksdingern. Sie reichte fast bis zur Decke und ich legte mich gern unter sie. Der Geruch erinnerte mich an meine Tage im Wald und es war eine Wohltat für meine Nase.
Wäre nur mein Mensch auch hier und könnte sich genauso daran erfreuen wie ich…
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Zwei Wochen. Zwei Wochen waren bereits vergangen und ihr Hund war noch immer nicht aufgetaucht.
Zuerst dachte sie noch, dass er zurückkommen würde wie er es immer tat. Vielleicht mit einem Kaninchen, das sie braten könnte und damit Geld sparen könnte. Es war normal für einen unabhängigen Hund von Zeit zu Zeit zu verschwinden, besonders für einen ehemaligen Streuner.
Doch die Tage vergingen und wurden zu Wochen und er war immer noch nicht aufgetaucht. Der Hund blieb weg. Nicht einmal sein Bellen hörte sie noch. Wie als hätte er sich entschlossen nicht mehr bei ihr zu leben, um ihrem Trübsinn zu entkommen. Vielleicht war es ja so vorhergesehen. Jeder den sie liebte würde sie früher oder später verlassen, auf die eine oder andere Weise. Jetzt half ihr nicht einmal mehr das Bild von ihm anzusehen. Es machte sie nur noch trauriger.
Nach draußen ging sie nicht mehr. Einmal hatte sie es versucht, um ihren Hund wiederzufinden. Doch dann sah sie den Weihnachtsbaum, der auf dem Marktplatz aufgebaut worden war. Die Lichter, die fröhliche Stimmung, das Gelächter und gemeinsame Singen… Irgendwann hatte sie es nicht mehr ausgehalten und war zurück in ihre kleine Hütte verschwunden, die sie kalt, dunkel und gefüllt mit Erinnerungen an niederdrückende Tage erwartete. An Zeiten in denen sie die Tür aufgestoßen, ihrem Hund einen Knochen zugeworfen und das Feuer angeheizt hatte.
Die letzten Jahre nach dem Verschwinden ihres Partners waren nicht schön gewesen, keine Frage. Sie hatte sich mit ihrem Streuner in einem Haus verschanzt und konnte Geld nur durch vereinzelte Gelegenheitsjobs oder Betteln bekommen. Oft fand sie kaum den Antrieb an einem Morgen überhaupt aus dem Bett zu kommen. Was erwartete sie denn in der Welt noch? Nichts. Niemanden kümmerte es mehr, wie es ihr ging. Außer einem Hund. Jetzt da dieser weg war, bemerkte sie erst wie einsam sie tatsächlich war. Wie sehr sie ihn nun doch auch brauchte. Es war bloß ein Hund, gottverdammt. Trotzdem – in ihr regte sich die Sorge. Er könnte überall sein. Vielleicht sogar tot. Sie musste ihn finden! Sie musste. Sie konnte ihn nicht auch im Stich lassen. Das war sie ihm Schuldig.
Das Dorf war voller Aufregung. In Fenstern konnte sie Weihnachtssterne erkennen so wie Kränze und Basteleien. Alles war weihnachtlich geschmückt wie zu erwarten. In ein paar Tagen war Heilig Abend. Sie senkte den Blick und versuchte sich in ihrer Jacke zu verstecken. Hoffentlich erkannte sie niemand. Das wäre nur peinlich. Sie wollte gerade weder Mitleid bekommen, noch nervige Fragen beantworten.
Wo könnte ihr Hund sein? Wo sollte sie die Suche beginnen? Einfach mitten im Dorf oder besser im Wald, wo er sich verletzt haben könnte?
Irgendwie fühlte es sich erfrischend an etwas zu tun zu haben. Ein Ziel zu kennen auf das sie zuarbeiten konnte. Ihren Hund finden, das würde sie tun.
Die kühle Dezemberluft draußen war angenehm. Frisch, aber nicht kalt genug um durch die vielen Lagen Kleidung zu dringen. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und sie wanderte ans Ende des kleinen Dorfes.
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Sie fing im Wald an. Das war einfacher. Nur durch den Schnee zu stapfen, die Vogelrufe zu hören und allein zu sein. Kein Singen und kein weihnachtlicher Schmuck, der sie nur noch mehr an ihren Verlust erinnerte.
Doch auch nach zwei Tagen Suche im Wald blieb ihr Hund unauffindbar, sodass sie sich schließlich an die Ränder des Dorfes hinauswagte. Ihr Hund würde sich normalerweise niemals zu weit entfernen. Entweder war er im Dorf oder im Wald nahe ihrer Hütte. Also jetzt das Dorf und das Gebiet dahinter.
Mit jeder Stunde, die verging und sie ihren Hund nicht fand, fühlte sie sich einsamer. Verlassener. Sie hatte ihn nie zu schätzen gewusst, dass er immer versucht hatte sie zu trösten. Nun bereute sie es wie kaum etwas anderes in ihrem Leben. Manchmal hörte sie Bellen oder bildete sich ein den Pelz ihres Hundes zu erspähen, doch wenn sie hinterherrannte oder genauer hinhörte, war da… Nichts. Die Gassen waren leer und die Winterluft frei von Hundegeräuschen.
Es war anstrengend mit gesenktem Kopf und der ständigen Angst erkannt zu werden durch das Dorf zu laufen. Sie rief selten nach ihrem Hund – sie könnte ja erkannt und angesprochen werden. Im schlimmsten Fall von ihm, dem Mann, der sie verlassen hatte.
In den Stunden in denen sie suchte hatte ihr Gehirn genug Zeit sich die scheußlichsten Szenarien auszumalen. Ihr Hund tot neben einem wütenden Bären, erschossen von einem Jäger, mit gebrochenem Bein durch den Schnee kriechend, erfrierend in einer Gasse im Dorf, versteckt in einem durchweichten Pappkarton… Irgendwann zwang sie sich an etwas anderes zu denken.
Sie vermisste ihren Hund mehr und mehr. So sehr, dass es begann wehzutun.
Zwei Tage vor Weihnachten gelangte sie in die Nähe des Zentrums. Jetzt lief sie nicht mehr nur Gefahr von alten Freunden erkannt zu werden, sondern auch von ihm. Hier wohnte er. Er, der der Grund dafür war, dass sie sich tagelang in ihrem Haus verschanzt hatte mit nichts als einem Foto, alles was ihr von ihm geblieben ist. So hatte sie ihren Hund in erster Linie kennengelernt, da sie sich in Gassen versteckte und an abgelegenen Orten den Menschen aus dem Weg ging.
Das Singen wurde lauter je näher sie dem Marktplatz kam. Sie spähte durch eine Gasse und erblickte den feierlich dekorierten Platz auf dem sie früher so gerne mitgefeiert hatte. Durch die nah stehenden Häuser konnte sie einen flüchtigen Blick auf den Weihnachtsbaum erhaschen. Prächtig geschmückt wie jedes Jahr. Menschen standen darum und sangen, tranken Glühwein, aßen Plätzchen und Lebkuchen und lachten. Sie waren glücklich.
Sie seufzte und ließ sich erschöpft auf den schneebedeckten Boden der Gasse sinken. Ihre Füße schmerzten von dem Tagesmarsch und sie hatte Muskelkater in den Beinen von der vergangenen, anstrengenden Woche. Eine Brise fegte durch die Gasse, ließ die Christbaumkugeln klirren und jagte ihr trotz der vielen Lagen Kleidung einen kalten Schauer durch den Körper. Ein Schluchzen entkam ihrer trockenen Kehle. Es erinnerte sie alles zu sehr an den Tag an dem sie ihren Hund gefunden hatte. Er, der gekommen war, sie angestupst hatte und ihre Hand leckte. Ohne es zu wissen hatte er ihr dadurch einen Funken Lebenssinn wiedergegeben.
Sie weinte bis ihr die Zähne aufeinanderschlugen und sie Angst bekam, dass die Menschen auf dem Marktplatz sie hören könnten. Dann strich sie sich bestimmt die Tränen aus dem Gesicht und biss sich fest auf die Zunge. Sie würde es schon schaffen. Ihn finden. Sie musste.
Auf einmal stupste sie eine feuchte Schnauze an. Ihr Kopf fuhr hoch. Mit aufgerissenen Augen suchte sie hektisch nach ihrem Hund, der zurückgekommen sein musste, mit ihr nach Hause gehen würde. Hatte er sie wiedergefunden, genau hier?
Der Hund, der vor ihr stand, hatte struppiges, braunes Fell und dunkle, traurig aussehende Augen. Dreckklumpen hingen in seinem Pelz. Für einen kurzen Moment verlor sie wieder Hoffnung, senkte den Blick und wurde fast mit einer neuen Welle Trauer durchspült. Nicht ihr Hund, er war nicht zurückgekehrt. Bloß ein wilder Streuner ohne Fressen und Besitzer. Eine feuchte Zunge strich ihr über die Hand. Sie sah auf und blickte in hoffnungsvolle Augen. Ein weiteres Lecken, fast schon schüchtern. Sie vergrub ihre Hand in dem Fell des Streuners und kraulte ihn. Plötzlich war alles wieder okay. Es war zwar nicht ihr Hund aber jemand, der ihr gerade Trost spendete.
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Heute war ein großer Tag. Ich konnte es in der Luft riechen sowie es in der Art wie sich die Menschen bewegten lesen. Sie waren noch fröhlicher als sonst und ganz aufgeregt. Sie raschelten mit Papier und versteckten kleine Dinge darin. Als ich einmal hineinsprang, gaben sie bloß wieder diese fröhlichen Laute von sich und schoben mich sanft fort. Dann zogen sie sich ihre dicken Pelze an. Ich wurde so wie immer am Strick festgebunden, der hier wohl ‘Leine‘ hieß. Die eingepackten Dinge füllten sie in einen großen Sack. Als alles erledigt war, verließ mein neues Rudel mit mir das Haus.
Draußen roch es nach Rauch und Schnee. Ich rannte freudig neben den Welpen her, sprang an ihnen hinauf und wirbelte Schnee auf, sodass eisige Flocken auf uns herabregneten. Ein Welpe formte den Schnee zu einem Ball und warf mich dabei ab. Es war ein kurzer, kalter Stich, der mich aufjaulen ließ. Es tat nicht weh, war aber für einen Moment unangenehm. Als dar andere Welpe daraufhin auch einen Ball auf den anderen warf, jaulte dieser auch kurz auf.
Wir liefen zu der großen Tanne in der Mitte des Dorfes, an der die gefährlichen, splitternden Kugel dranhingen. Viele Gerüche stiegen mir in die Nase. Menschen, Nahrung, Hunde und… Ich blieb stehen, meine Ohren stellten sich auf. Da, dieser Hauch eines Geruchs… Ich kannte ihn. War sie das? War das mein Mensch? Die Leine zerrte an meinem Brustkorb, weg von dem Geruch. Ein Welpe quengelte. Ich witterte erneut. Er war weg. Der kleine, flüchtige Hauch verschwunden.
Auf dem Platz standen viele Menschen mit ihren scharf riechenden Getränken und klebriger Nahrung. Ich hielt mich nah an meinem neuen Rudel, drückte mich dicht an ihr Bein, damit mich keine der vielen Füße trafen. Es war voll, viel zu voll hier. Es war auch laut. All die menschlichen Stimmen und bellenden Hunde.
Ich sah an den Beinen der einzelnen Personen hinauf, zu all den vielen, verschiedenen Gesichtern und dann wieder zurück zu meinem neuen Rudel. Es wirkte entspannt. Für sie schien es nicht so riskant zu sein. Jetzt waren wir nah am Baum. Ich konnte die Nadeln riechen. Die Zweige schlugen im Wind leicht gegeneinander. Ich setzte mich zu Fuße meiner Menschen, die jetzt standen und miteinander kommunizierten. Ein Welpe bückte sich zu mir und streichelte mein Fell.
Plötzlich war er wieder da. Dieser Geruch. Der Geruch nach meinem Menschen.
Ich streckte die Schnauze höher in die Luft und versuchte mehr davon in der Brise zu erhaschen. Er durfte mir nicht schon wieder entkommen.
Die Leine um meinen Brustkorb riss mich wieder ein Stück zurück. Langsam machte mich das frustriert. Ich hielt mich nicht damit auf sie anzuknurren, denn jetzt war der Duft deutlicher, waberte durch die Luft und durchdrang all die anderen Gerüche. Er roch trotzdem nicht wie sonst. Es war immer noch mein Mensch, das erkannte ich, aber die Trauer… sie war gedämpft. Nicht mehr so allgegenwärtig und erstickend. Außerdem… Hund. Da war Hundegeruch!
Mit einem Bellen riss ich an der Leine. Ich war stärker als sie, das wusste ich! Ich musste zu meinem Menschen kommen. Der Rüde aus meinem neuen Rudel stieß einen erschrockenen Laut aus, bevor er hinter mir her stolperte.
Die Leine nahm mir die Luft als ich mich durch die Menschenmenge drängelte. Sie ließ mich japsen und keuchen. Weiter, weiter, immer dem Geruch nach. Der Leine durfte ich nicht die Oberhand gewinnen lassen, sonst wäre der Geruch und somit mein Mensch erneut weg!
Endlich sah ich sie. Meinen Mensch, der am Rande all der anderen an einer Hauswand saß, umringt von einigen der Hunde zu denen ich früher einst auch gehörte. Ich bellte, jaulte und die Hunde wichen zur Seite, als ich zu meinem Menschen rannte, mich um ihre Beine schlängelte, an ihr hochsprang und mein Fell an ihr rieb. Sie stieß einen überraschten Laut aus und ich sah sie vor Erschöpfung hechelnd an. Mein Mensch lächelte. Ein Geruch von Erleichterung strömte von ihr aus als sie sich vorsichtig zu mir hinabbeugte und mich hinter dem Ohr kraulte, so wie ich es immer am meisten geliebt hatte.
Ich schloss die Augen und stieß ein kehliges Geräusch aus. Ich hoffte mein Mensch erkannte das als einen Ausdruck der Freude. Jetzt war alles in Ordnung. Ich hatte es geschafft, irgendwie, das Rudel wieder zusammenzubringen. Der Rüde war hier und mein Mensch. Und das neue Rudel des Rüden. Vielleicht konnte sich mein Mensch ihnen einfach anschließen.
Dann entdeckte mein Mensch den Rüden. Überraschung, Verwirrung und ein Hauch Trauer hing auf einmal in der Luft. Ich legte den Kopf schief und sah hinauf zu den beiden Menschen. Wieso freuten sie sich denn nicht? Sollte es ihr denn jetzt nicht viel besser gehen? Ich hatte ihr verloren gegangenes Rudelmitglied gefunden! Oder war der Rüde jetzt wütend auf meinen Menschen, weil er eigentlich gar nicht mehr bei ihr sein wollte?
Der Rest meines neuen Rudels kam aus der Menschenmasse gelaufen und kam besorgt auf uns zu. Die Welpen quietschten Glücklich, als sie mich entdeckten.
Dann geschah etwas großes zwischen den Menschen. Irgendetwas, was ich nicht ganz verstand. Es musste etwas mit den Gefühlen zu tun haben, die ich roch.
Verwirrung, Besorgnis, Erleichterung und Scham. Sie kommunizierten auf ihre komische Menschenart, mit Lauten und seltsamen Bewegungen. Ich saß daneben und hasste es, dass mein Mensch sich so unwohl fühlte.
Jetzt musste es wirklich schlimm geworden sein, denn sogar die Welpen waren nicht mehr so glücklich. Sie standen bloß an der Seite ihres Muttermenschen und sahen mit großen Augen zu den Ausgewachsenen hinauf. Die Hunde scharten sich jetzt um meinen Menschen. Sie waren ebenso ratlos wie ich und wollten trotzdem irgendwie helfen. Hatte mein Mensch ein neues Hunderudel gefunden während ich weg war?
Es dauerte eine Weile aber nun wurden die Welpen langsam ungeduldig. Der Himmel färbte sich langsam dunkler und es wurde spät. Als die ersten Chorsänger, die den ganzen Tag über so fleißig geprobt hatten, ihre Stimmen erhoben, waren die schlechten Gefühle fast vollständig verschwunden. Mein Mensch hob die Leine auf bevor sie mich noch einmal kraulte.
„Schlimmer kann es wirklich nicht mehr werden.“
Ich verstand die Worte nicht wirklich. Sie ergaben kaum Sinn, denn sie beschrieben keine Worte die ich kannte, mit denen ich interagierte, wie Futter Bett, Sitz oder Platz. Die Worte waren Menschenworte und nur für sie verständlich. Zusammen mit den anderen Streunern, meinem Menschen und meinem neuen Rudel bahnten wir uns erneut unseren Weg durch die Menge. Ich fühlte mich jetzt sicherer als zuvor. Nun war mein Mensch wieder bei mir, sowie viele weitere Hunde. Die Sonne verschwand vollkommen und die Nacht kühlte die Luft. Lichter hellten den Platz, Feuer wurden angezündet. Ich entdeckte einen Menschen, der einen Stern ganz oben auf den Tannenbaum setzte. Nun bemerkte ich viele bunte Pakete, die unter dem Baum gestapelt waren und die ich zuvor nicht gesehen habe. Es roch nach Wärme, nach Feuer und Menschennahrung. Mein Mensch gab mir auch etwas zu fressen, ein kleines Stück Fleisch. Sie kommunizierten die ganze Zeit. Die Welpen spielten im Schnee, die Ausgewachsenen unterhielten sich und ich lag am Fuße meines Menschen und beobachtete die Umgebung. Irgendwann legten sich auch die anderen Streuner zu mir.
Der Mond stand hoch am Himmel, als Bewegung in die Menschen kam. Die Welpen wurden herangerufen. Eine Gruppe der Menschen stellte sich vor den Baum und heulte für alle, wofür sie Dankbarkeit und freudige Rufe von der Menge bekamen. Ein älterer Rüde, offenbar respektiert von all den anderen Menschen, kam als nächstes nach vorn. Er sprach ein paar Worte und wieder dankte ihm die Menge. Zum Schluss verteilte mein Rudel untereinander die verpackten Dinge.
Ein Welpe meines Rudels sprach kurz mit dem weiblichen Ausgewachsenen, holte schließlich ein Stück Schokolade, welches in Papier eingewickelt war, aus seiner Tasche und hielt es meinem Menschen schüchtern hin. Auf einmal schnappte ich einen Geruch auf, den ich zu lange nicht mehr von ihr gerochen hatte, von dem ich geglaubt hatte sie wäre nicht fähig es zu fühlen.
Freude.
Von der Stimmung angesteckt sprangen die Streuner und ich nun auch auf, um die Geschenke unter dem Baum zu öffnen.
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Weihnachten fühlte sich wieder so an, wie es früher gewesen war. Ein Fest der Liebe und des Zusammenseins. Die Sänger lieferten eine ganz besondere Version von ‘Leise rieselt der Schnee‘ und einem englischen Weihnachtslied, das sie nicht kannte. Es roch nach gebrannten Mandeln, Lebkuchen und Kaminrauch. Der Himmel war schwarz wie Ebenholz und vereinzelt glitzerten kleine, helle Sterne darin. Es fehlten nur Schneeflocken, die auf sie hinabtrudeln würden.
Der Schnee knirschte unter ihren Füßen, ein greller Kontrast zu dem Himmel. Ihre Zehen und Finger waren taub aber die Nähe zu anderen Menschen strahlte etwas aus was sie wärmte. Sie rieb ihre Hände, hauchte sie an und war plötzlich in ihre Jugend zurück versetzt. Es gehörte alles so sehr zu Weihnachten dazu, dass es schmerzte. Die Kälte, der Geruch und… Glühwein. Ein Mann mit einem Tablett voll mit dampfenden Bechern lief vorbei. Als sie sich einen davon nahm, nickte er ihr bloß lächelnd zu. Der Glühwein wärmte sie von innen.
Jetzt war alles richtig.
Als der Bürgermeister nach vorn trat und eine Weihnachtsrede hielt, sah sie schnell hinüber zu ihm.
Ein unglücklicher Zufall, dass sie genau ihren Ex hier getroffen hatte, dass genau er ihren Hund gefunden hatte. Der Stich als sie seine Frau und Kinder entdeckt hatte, war noch immer präsent aber bereits abgeschwächt und beinahe gar nicht mehr da.
Dennoch tat es noch immer weh ihn anzusehen aber nicht bei ihm sein zu können. Allerdings war es nicht mehr alles woran sie dachte und bedeutete nicht mehr ihre ganze Welt, so wie früher. Vielmehr fragte sie sich nun wie es sein konnte, dass es sie so sehr heruntergezogen hatte als er sie verlassen hat. Schließlich hatte sie ihren Hund gehabt, um den sie sich hätte kümmern können, kümmern müssen.
Anders als sie hatte er es geschafft weiterzuleben, sich etwas neues aufzubauen, Familienvater zu werden, ein liebender Ehemann…
Wieso hatte sie es nicht ebenso gemacht? Es hatte auch damals in den Straßen von Streunern nur so gewimmelt, die dringend jemanden brauchten, der sich um sie kümmerte. Wenn sie nur einmal nachgedacht hätte, wäre ihr sogar aufgefallen, dass sie all die Streuner zu Jagdhunden dressieren könnte und nicht länger kaum genug Essen fürs Überleben haben müsste. Ein wenig Ausrüstung, ein Handbuch zur Hundedressur und vielleicht könnte sie die Jagdbeute auch verkaufen. Sie war jetzt so erfüllt von der Idee, dass sie es kaum erwarten konnte anzufangen. Noch war es nicht zu spät einen Neuanfang zu starten. Es würde warm zu der Winterszeit in ihrer Hütte werden, keine Frage, aber dennoch gemütlich mit all den Hundekörpern um sie. Wenn sie sich zu schnell vermehrten, konnte sie Welpen verkaufen…
„Ist alles okay?,“ wisperte er ihr zu.
Sie sah schnell hinüber zu dem Bürgermeister, der jetzt seine Rede fast beendet haben musste und wandte sich dann wieder zu ihm.
„Ja, klar. Ich hab nur… viele Pläne.“
Er lächelte leicht. Ein Lächeln, das sie einst mehr geliebt hatte als sich selbst.
Auch wenn es noch wehtat, standen diese Gedanken im Hintergrund und beherrschte sie nicht mehr. Außerdem war seine Frau wirklich nett. Hätten sie sich unter anderen Umständen kennengelernt wären die beiden vielleicht Freundinnen geworden.
Nachdem die Geschichte, nämlich wie ihr Hund von der Familie aufgenommen worden war, genug auserzählt wurde und sie sich genug bedankt hatte, dass er es so gut bei ihnen gehabt hatte, redeten sie auch über andere Dinge. Sie erklärte ihre Pläne mit den Streunern und bekam das Angebot des Ehepaars, dass sie die Neuigkeit von eventuellem Welpen Verkauf im nächsten Frühling bei ihren Freunden verbreiten konnten und sie selbst auch nichts gegen eine Erweiterung ihrer Familie hätten.
Schließlich wurden die Kinder ungeduldig. Sie beobachtete wehmütig lächelnd wie die Familie Geschenke austeilte. Jedes Kind bekam eins, so wie auch die Eltern. Diese freuten sich über eine neue Sonnenbrille und einen Krimi ebenso sehr, wie über ein gemaltes Bild und einen gebastelten Hund. Wenn sie nur daran gedacht hätte auch ein Geschenk zu besorgen…
Beide Kinder bekamen jeweils einen Schokoladenweihnachtsmann. Das war vermutlich das Geschenk, über welches sie sich am meisten freuten. Daher überraschte es sie, als auf einmal einer der beiden vor ihr stand und ihr seinen Weihnachtsmann hinhielt.
„Du hast gar keine Geschenke bekommen. Damit du nicht so traurig bist.“, meinte er.
Der Weihnachtsstern an der Spitze des Baumes leuchtete golden. Kerzen und Lichterketten erhellten den Marktplatz. An den umstehenden Häusern sah man in den Fenstern Weihnachtsdekoration. Es war kalt und es herrschte Weihnachtsstimmung. Gelächter erfüllte die Luft, Freude und plötzlich ein erschrockener Schrei.
„Wessen Hund zerfetzt da die Geschenke? Das ist Dekoration!“
Sie blickte in die Richtung von der der Schrei kam, nur um ihren Hund und die Streunermeute zu sehen, die nun zufrieden an den Geschenken unter dem Baum nagten. Sie lachte und auf einmal löste sich all die Trauer und Bitternis der vergangenen Jahre wie in Luft auf.
„Weihnachten geht jetzt wirklich vor die Hunde!“
Verfasst von Pauline K.,
einer Schülerin des Johan-Gottfried-Herder-Gymnasiums
Danke, dass wir dein Werk hier veröffentlichen dürfen!