Cancel Culture – Eine Gefahr für die Demokratie?


Leserbrief zum Artikel „Ein falsches Wort. Wie eine Ideologie im Namen von
Gleichberechtigung und Antirassismus die Meinungsfreiheit und die offene Gesellschaft
bedroht“ von René Pfister (DER SPIEGEL 35|2022)

(cr) Nele Zech 2024


Ihren Artikel „Ein falsches Wort“ zum Thema Antirassismus und der Bedrohung von Meinungsfreiheit habe ich mit großem Interesse gelesen. Sie beschreiben darin die Folgen der heutigen „Cancel Culture“ und die größer werdende Angst, sich frei zu äußern. Im Folgenden würde ich gerne meine Meinung zu bestimmten von Ihnen problematisierten Punkten äußern.

In Ihrem Artikel schreiben Sie über eine Umfrage des Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, kurz DeZiM, zum Thema Chancengleichheit. Laut Auswertung sind 90% der Befragten der Meinung, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben sollten. Jedoch wird die Studie durch einen negativen Ton der Autoren und Autorinnen dominiert und auch hier geht es wieder einmal um die Frage nach der Herkunft.

Kann man jemanden einfach fragen, wo dieser herkommt oder wird selbst das schon als Rassismus angesehen? Diesbezüglich scheiden sich die Geister, 63,4% denken, dass es absurd ist, diese Frage als rassistisch anzusehen. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass es wie in so vielen Dingen auf den Kontext ankommt.

Es ist ein Unterschied, ob sich zwei Menschen, z.B. über einen Chat, fragen, wo sie herkommen oder ob diese Frage in einem Jobinterview gestellt wird. Dazu kommt die Kommunikation, also die Art und Weise, wie gesprochen wird. Ich bin der Überzeugung, dass vor allem die analoge Ebene hier eine wichtige Rolle spielt, folglich Faktoren wie Sprechtempo und Stimmlage, aber auch Mimik und Gestik.

An dieser Stelle greift das Konzept der Mikroaggression, dieses kann zwar zu einem respektvollen Umgang führen, jedoch gibt es auch ein großes Potenzial für Konflikte. Eine der negativen Folgen ist das Erkennen einer rassistischen Botschaft hinter jedem Satz. Für die normative Mehrheit bleiben Mikroaggressionen oft unbemerkt, aber für People of Color, Menschen die sich als LGBTQI+ identifizieren und Menschen mit Behinderung sind diese Vorfälle Alltag.

Als nächstes führen Sie kurz das Beispiel von Winnetou an. Ich würde darauf gerne etwas ausführlicher eingehen. Kritiker behaupten, „Der kleine Häuptling Winnetou“ wäre eine Reproduktion von rassistischen Stereotypen, dem Verlag Ravensburg wurde sogar die Verharmlosung des Genozids an den nordamerikanischen, indigenen Völkern vorgeworfen.

Aus diesem Grund wurden der Roman sowie Sticker-Buch und Puzzle vom Markt genommen. Danach gab es jedoch Missbilligungen aus der anderen Richtung, das schnelle Einknicken nach nur einem Shit-Storm wurde kritisiert.

Meiner Ansicht nach ist die Kritik zum Teil gerechtfertigt, schon der Trailer war auffällig stereotypisch und laut FRANKFURTER RUNDSCHAU wurde auch „redfacing“ betrieben, das heißt weiße Schauspieler wurden mit einem rötlichen Make-Up geschminkt. Warum wird das eigentlich nicht thematisiert?

Schließlich ist „blackfacing“ allgemein als rassistisch anerkannt. Das Nachahmen von ethnischen Merkmalen, vor allem der Hautfarbe ist keine Verkleidung. Viele Menschen erfahren aufgrund der Farbe ihrer Haut strukturelle Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt. Ich denke, dass das Thematisieren der indigenen Bevölkerung Nordamerikas wichtig ist, jedoch lässt die Umsetzung Einiges zu wünschen übrig.

Allerdings kann ich Ihre Meinung zum Thema Transidentität nicht nachvollziehen. Sie spielen den Satz „Nur Menschen mit einer Gebärmutter können Frauen sein.“ herunter, diese Meinung ist aber veraltet und entspricht einem transphoben Weltbild, in dem es so etwas wie eine Transfrau nicht gibt. Ich gebe Ihnen Recht, man kann auf alte Diskriminierung nicht mit neuer Diskriminierung antworten, jedoch erfüllt die Aussage J.K. Rowlings, „Meschen, die menstruieren; ich bin mir sicher, dass es früher ein Wort für diese Menschen gab. Kann mir einer helfen? Froun? Freen? Fruun?“, (übersetzt) jenes verachtende bzw. verleugnende Bild von Transmenschen und so etwas als Person im öffentlichen Raum zu tweeten, zieht in der heutigen Zeit verständlicherweise viel Kritik nach sich.

Auch hier gibt es Menschen, die Linien überschreiten und etwas übertreiben. Man kann heutzutage den Begriff Frau und Mann nicht mehr klar definieren.

Ich finde es erschreckend, dass laut Meinungsforschungsinstitut Civey 52% der Deutschen glauben, dass sie sich nicht zu kontroversen Themen äußern können, weil sie sonst Problem im Alltag bekämen. In anderen Ländern sieht es nicht besser aus: In den USA sind es 55% (New York Times) und in Großbritannien sogar 57% (YouGov-Umfrage). Diese Erscheinungen hängen stark mit der „Cancel Culture“ zusammen, diese ist der Versuch, ein Fehlverhalten bzw. eine beleidigende oder diskriminierende Aussage öffentlich (oft online) anzuprangern und zu missbilligen: eine Kombination aus Antirassismus, Feminismus und massivem Online-Shaming.

Der Historiker Max Paul Friedman meint, dass man vor allem in den USA zwischen Links und Rechts unterscheiden müsse. Von Links seien es Studierende, die gegen beleidigende Äußerungen von Professoren oder Rednern protestieren, es seien ethnische Minderheiten, die sich gegen Rassismus äußern oder Feministinnen, die sich dagegen wenden, dass (mächtige) Männer ungestraft Frauen belästigen oder andere Sexualdelikte begehen können.

Hinter den Shit-Storms von rechts stehen oft konservative Gesellschaften, die die Staatsmacht nutzen, um Zensurgesetze für Schulen und Hochschulen zu erlassen. Beispielsweise überwacht der Staat Florida Professoren, um sicherzugehen, dass diese nicht Rassismus thematisieren. Ein weiteres sehr bekanntes Beispiel ist die „Don’t say gay-bill“, diese verbietet das Besprechen von Identität im Sinne von LGBTQI+. Meiner Meinung nach besteht ein starker Unterschied zwischen sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen, die sich eine Stimme verschaffen, und Organisationen, die geplant gegen bestimmte Meinungsbilder vorgehen.

Das Wort „Cancel-Culture“ ist mittlerweile negativ konnotiert, ich finde diese Entwicklung sehr schade, da es ursprünglich darum ging Gehör zu verschaffen und auf gesellschaftliche Konflikte aufmerksam zu machen.

Beim Lesen sind mir immer wieder kontroverse bzw. unglaubwürdige Aussagen begegnet,
zum Beispiel thematisieren Sie das Zweiklassenrecht welches das erste Mal in dem Buch „Words That Wound“ im Jahre 1993 auftauchte. Demnach können sich nur privilegierte Menschen, in dem Fall weiße Amerikaner der Hassrede schuldig machen. Dieses Konzept wurde 2020 von Ferda Ataman in ihrer Kolumne für den SPIEGEL aufgegriffen. Sie stellt die Frage, warum sich Deutsche angegriffen fühlen würden, wenn man diese als Kartoffel bezeichnet, schließlich wäre das doch niedlich. Ich möchte gar nicht bestreiten, dass man die Beleidigung als Kartoffel mit dem N-Wort keinesfalls gleichstellen kann, jedoch ist die Würde eines jeden Menschen unterschiedlich und jeder empfindet etwas anderes als beleidigend.

Dies sind nur einige von denen von Ihnen aufgegriffenen Themen und für vieles gibt es keine Lösung oder eine Regelung, die alles besser machen würde. Ich wünsche mir, dass die Menschen offener für Themen der Transidentität werden, ein Mann, der sich als Frau fühlt ist eben eine Frau, egal ob sie eine Gebärmutter hat oder nicht. Ich wünsche mir, dass die Menschen verstehen, dass es auch bei Rassismus Unterschiede gibt. Keine Form des Rassismus ist annähernd in Ordnung, aber er umgibt uns tagtäglich. Jeder hat Vorurteile gegenüber bestimmten Menschengruppen.

Man sollte diese jedoch nicht öffentlich äußern und Minderheiten aufgrund von Vorurteilen unterdrücken. Ich wünsche mir, dass die „Cancel-Culture“ sich wieder zu etwas Positivem entwickelt, es geht darum, Aufmerksamkeit zu erregen und nicht die Identität einzelner Personen zu unterdrücken. Ich wünsche mir, dass die Menschen verstehen, dass sich die Welt weiterentwickelt. Wir werden Neues entdecken und es wird immer Menschen geben, die an alten Regeln festhalten wollen. Aber wir dürfen eine Minderheit von Hass, Drohungen und Gewalt nicht bestimmen lassen wie sich die Mehrheit weiterentwickelt und wie es jedem einzelnen von uns jeden Tag geht.

Nora